Lieber Herr Schüssler,
vielen Dank für Ihr Interesse und den Kommentar. Ich freue mich deswegen darüber, weil wir (alle) so in einen Diskurs eintreten können, der dazu geeignet ist, Positionen auszutauschen und Kritik zu äußern. Kritik lässt uns besser werden und generiert Verständnis für andere Auffassungen. Auch wenn ich im Folgenden harsch eine Position vertrete, respektiere ich auch Ihre und die anderer.
Wenn Journalistinnen und Journalisten Ereignisse berichten und einordnen, ist tatsächlich eine Reduktion der Komplexität nötig. Rezipienten (Leser, Hörer, Zuschauer) erlangen mehr oder weniger komplexes Wissen zu einem Thema oder Ereignis aus dem öffentlichen Diskurs, also der Zuwendung zu mehreren Medienquellen (FAZ, SZ, diverse Nachrichtensendungen etc.), die dasselbe oder ähnliche Themen beackern.
Bei der redaktionellen Konstruktion von kausalen Zusammenhängen lautet meine Bewertung: Wir wissen es nicht, ob diese Ursache-Wirkung so ist oder nicht. Und nur weil es plausibel ist, darf es nicht einfach als Fakt behauptet werden. Und Behauptungen zu Ursache-Wirkung sind immer faktisch. Ungesicherte Behauptungen zu Kausalitäten vermitteln ein falsches Bild unserer Umwelt und sind zudem ein schlechter Prototyp für Diskussionen ganz allgemein.
Journalistinnen und Journalisten haben eine Verantwortung. Dieser Verantwortung haben sie (gefälligst) zu entsprechen (Pressekodex – Presserat 2023).
Eine Lösung dieses (speziellen) Problems sehe ich in der Überarbeitung des Konzepts dieser Sendung.
a) Wenn schon nur wenig Zeit zur Verfügung steht, können nicht mehrere Themen aufgegriffen werden.
b) Wenn ich mich als Journalist auf dem Fachgebiet der Volkswirtschaftslehre bewege, muss ich mich mit relevanten Inhalten der Volkswirtschaftslehre auseinandersetzen, den Mangel des Konzepts der Sendung in der Redaktion diskutieren und Lösungen suchen. Im Moment erklären die Journalisten dieser Sendung etwas, was man in der Volkswirtschaftslehre als „Noise“ bezeichnet. Das tägliche Auf und Ab ist nicht rational erklärbar (Black 1986; Heyl 1995; Peress und Schmidt 2021; Röckemann 1994; Scheufele und Haas 2008).
c) Und vor allem – dies ist eine Bitte an alle Journalistinnen und Journalisten: Nicht immer „wissen“, dass Sie Recht haben, sondern signalisieren, dass die Darstellungen Ihren persönlichen Wahrnehmungen entsprechen.
Was meint der letzte Punkt? Wissen bestimmt das Handwerk (journalistische Tätigkeit). Auf unserem Wissen bauen unsere Bewertungen auf. Aber: Das Menschliche Gehirn konstruiert Realität (Bosel 2016; Mulder und Steffens 2007; Popper und Eccles op. 1989; Roth 2010). Wie wir Menschen Informationen aufnehmen bzw. Ereignisse wahrnehmen, hängt von den persönlichen Erfahrungen und Interessen der (in diesem Fall) Journalistinnen und Journalisten ab. Die dabei entstehenden Texte sind also nicht Kalkül der Manipulation, sondern Ergebnis persönlicher Erfahrungen, das sich durchaus als faktisches Wissen in den publizierenden Persönlichkeiten manifestiert hat. Dargelegte Beobachtungen sind subjektiv, sie können nur mit weiteren (subjektiven) Beobachtungen untermauert werden.
Dieses Dilemma ist auch in der Wissenschaft nicht aufzulösen. Für wissenschaftliche Arbeiten nutzen wir daher Regeln. Wir tragen bereits vorhandenes Wissen zusammen (Theorie) und legen unsere Gedanken in Form eines Gedankenprotokolls offen, sodass andere verstehen, warum wir z.B. dieses und kein anderes Untersuchungsdesign gewählt haben.
Dieser Aufwand ist im journalistischen Alltag selbstverständlich nicht möglich. Wenn aber eine Quelle für eine konkrete Behauptung verlangt wird, und jetzt komme ich wieder zurück zur Sendung „Börse vor acht“, dann kann es überhaupt keine unabgesicherten Schlüsse auf zwei Ereignisse geben (Aktien-Minus und negative Anleger-Emotionen), weil solche kausalen Behauptungen nicht belegt werden können. Obgleich auch Frank Lehmann in den Anfängen der Sendung kausale Zusammenhänge konstruierte, signalisierte er hin und wieder, dass Ursachen für tägliche Aktienbewegungen nicht erklärt werden können, er meinte dann: „Verstehe einer die Anleger.“
Literatur
Black, Fischer (1986): Noise. In: The Journal of Finance 41 (3), S. 528–543.
Bosel, Rainer (2016): Wie das Gehirn ‘Wirklichkeit’ konstruiert. Zur Neuropsychologie des realistischen, fiktionalen und metaphysischen Denkens. 1st ed.: Kohlhammer Verlag.
Heyl, Daniel C. von (1995): Noise als finanzwirtschaftliches Phänomen. Eine theoretische Untersuchung der Bedeutung von Noise am Aktienmarkt. Zugl.: Frankfurt, Main, Univ., Diss., 1995. Frankfurt am Main: Knapp (Probleme des Kapitalmarktes. Monographien, 16).
Mulder, Theo; Steffens, Michael (2007): Das adaptive Gehirn. Über Bewegung, Bewusstsein und Verhalten. Stuttgart: Thieme.
Peress, Joel; Schmidt, Daniel (2021): Noise traders incarnate: Describing a realistic noise trading process. In: Journal of Financial Markets, S. 100618.
Popper, Karl Raimund; Eccles, John Carew (op. 1989): Das Ich und sein Gehirn. 5. Auflage, 33. – 35. Tausend. München, Zürich: R. Piper (Serie Piper, 1096).
Pressekodex – Presserat (2023). Online verfügbar unter https://www.presserat.de/pressekodex.html, zuletzt aktualisiert am 20.02.2023, zuletzt geprüft am 20.02.2023.
Röckemann, Christian (1994): Börsendienste und Anlegerverhalten. Ein empirischer Beitrag zum Noise Trading. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag.
Roth, Gerhard (2010): Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. 1. Aufl., [Nachdr.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1275).
Scheufele, Bertram; Haas, Alexander (2008): Medien und Aktien. Theoretische und empirische Modellierung der Rolle der Berichterstattung für das Börsengeschehen. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
https://wrint.de/2023/02/15/wr1459-boerse-vor-acht-noise-als-news/