Die Gruppierungen, die keine Vertreter und Chefs haben, aber in der Öffentlichkeit immer wieder mit wortstarken Statements zur Verkündung und Beschreibung ihrer Aktionen auftreten, scheinen so etwas wie Keimzellen oder erste Ausprägungen ganz neuer Aktionsformen zu sein.
Das ursprüngliche Ziel von Anonymous war der Kampf gegen die Sekte Scientology im Internet und die Verteidigung der Redefreiheit. Die Sekte konnte in der Vergangenheit wiederholt durchsetzen, dass Informationen über sie aus dem Netz entfernt wurden. Anonymous unterminiert die Scientology-Bestrebungen zum Beispiel mithilfe von Verteilten Dienstblockaden (englisch Distributed Denial of Service -DDoS).
In letzter Zeit hat die Aktionsgruppe viel öffentliche Aufmerksamkeit bekommen – zum Beispiel seit den Angriffen auf Kreditkartenunternehmen wegen deren Sperrung von Wikileaks-Accounts oder auch den Hacks von Sony.
Attacken gegen die CIA
Kommentare aus der Szene sprechen davon, Anonymous - eigentlich ein loser, nicht hierarchisch organisierter Haufen von Aktivisten - habe sich im Zuge der Wikileaks-Kampagne politisiert und viel Zulauf bekommen. Zulauf auch durch mehr oder weniger geliebte Ableger - so wird etwa LulzSec von manchen Aktivisten als Spielplatz kritisiert, auf dem Kiddies beliebige Abneigungen ausleben können. Zumindest klammheimliche Freude kommt dann aber doch bei vielen auf, wenn Attacken von LulzSec etwa gegen die CIA erfolgreich sind. Oder wenn die Mobbing-Website isharegossip.com nicht mehr erreichbar ist, weil sie angeblich von einer anderen Hackergruppe gekapert wurde.
Gruppe von Anarchisten
Die Gruppierungen, die keine Vertreter und Chefs haben, aber in der Öffentlichkeit immer wieder mit wortstarken Statements zur Verkündung und Beschreibung ihrer Aktionen auftreten, scheinen so etwas wie Keimzellen oder erste Ausprägungen ganz neuer Aktionsformen zu sein, die nicht nur politisch gezielt sind, sondern immer wieder auch Anliegen und Bedürfnisse einzelner Communities ausdrücken.
Im Unterschied zum "Digitalen Aktivismus", also der Nutzung des Internets für politische Aktionen, die oft auch klassische Formen digital widerspiegeln oder zur Mobilisierung dienen, erscheint solcher Hacktivismus als neues Phänomen der digitalen Welt. Alexandra Whitney Samuel definiert ihn in "Hacktivism and the Future of Political Participation" als "gewaltfreie, rechtswidrige oder rechtlich uneindeutige Nutzung digitaler Werkzeuge für die Verfolgung politischer Ziele" (zitiert nach André Meister, Digitaler Aktivismus und Hacktivism).
Digitale Guerilla
Sind also Gruppen wie Anonymous Keimzellen einer Politisierung innerhalb der Internet-Communities, die ganz neue Aktionsformen hervorbringt? Betrachten diese Communities DDoS-Angriffe und Einbrechen in Server von Unternehmen ebenso wie Regierungen als moderne Form der Sitzblockade, als eine Art digitale Guerilla, die Computersabotage als "virtuelle Gewalt gegen digitale Sachen" rechtfertigt?
Hacktivisten nehmen für sich auch in Anspruch, ein Gutteil zum Erfolg der arabischen Revolutionen beigetragen zu haben – da, wo auf die Aufstände nicht mit plumper und brutaler militärischer Gewalt reagiert wurde. Solche Aktionsformen scheinen also besonders erfolgreich, wenn Unternehmen und Staaten eine entwickelte IT- und Netz-Infrastruktur haben, wenn sie ökonomisch und politisch auf die globale Vernetzung (und damit auch auf die Zustimmung der globalisierten Öffentlichkeit) angewiesen sind.
Moderne Form der Sitzblockade
In den westlichen Industrieländern dagegen sind Hacktivisten-Aktionen bislang vor allem gegen Unternehmen gerichtet oder versuchen einzelne Themen - etwa Internet-Zensur, Überwachung und so weiter - durch Online-Aktionen aufzugreifen. Vielfach wird dabei unter anderem kritisiert, dass sie allzu leicht Spielwiese für unbedarfte Kiddies würden, die sich der möglichen juristischen Konsequenzen nicht klar wären: Ein Klick, und die Low Orbit Ion Cannon ist angeschmissen, ohne dass der Klicker daran denkt, dass möglicherweise die Strafverfolger zusehen. Laut jüngsten Urteilen sind DDoS-Angriffe Computersabotage und damit strafbar – viele allerdings sehen auch solche Aktionen als eine moderne Form der Sitzblockade, die wiederum nach Urteil des Bundesverfassungsgerichts zumindest nicht als Nötigung strafbar ist. Das Oberlandesgericht Frankfurt sah auch in der "Online-Demonstration" gegen die Lufthansa keine Form der Gewalt.
Betrachtet man dann die sich entwickelnden Aktionsformen allgemein, steht selbst die alte Weisheit politischer Aktivisten in Frage, dass der Protest irgendwann auf die Straße getragen werden müsse, um etwas zu bewirken.
Wirkungsvoller Hacktivismus
Hacktivismus ist extrem wirksam – und als neue Entwicklung derzeit noch sehr öffentlichkeitswirksam. Er bietet einfachere Beteiligungsmöglichkeiten, als es selbst die Demo in der Hauptstadt für manche sein mag. Ist Hacktivismus also die Zukunft der politischen Organisation und Aktion derjenigen, die in der Informationsgesellschaft aufwachsen, derjenigen, die sich als sogenannte Digital Natives politisieren?
Die Talk-Runde
Es diskutieren mit Jürgen Kuri (Twitter: @jkuri), stellv. Chefredakteur der c't und verantwortlich für heise online, im c't-Onlinetalk:
Anne Roth (Twitter: @annnalist), Journalistin, Politologin und Bloggerin, die vor allem über Terrorismus-Diskurse, Überwachung, Politik und Medien schreibt.
André Meister (Twitter: @ilf), Sozialwissenschaftler, Mitarbeiter bei netzpolitik.org, Mitglied bei Digitale Gesellschaft, der "kampagnenorientierten Initiative für eine bürgerrechts- und verbraucherfreundliche Netzpolitik", wie sie sich selbst beschreibt. Nebenbei ist er auch SysAdmin, der selbst schon mit DDoS-Angriffen zu kämpfen hatte.
Jan-Keno Janssen (Twitter: @elektroElvis), Medienwissenschaftler, c't-Redakteur, der sich intensiv mit Anonymous und ihren Aktionen beschäftigt hat.